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Sour but sweet

Ausgabe 2 / 22. August 2017

Herwig Pecoraro macht einen der besten Balsamico-Essige der Welt. Das wäre nicht weiter verwunderlich, wäre Pecoraro nicht auch ein Opernsänger.

 

Es geht den Hügel hinauf. Wir sind in Klosterneuburg-Weidling, einem Ortsteil, der ein eigenes Ortsschild hat, weil er nicht wie Klosterneuburg-Stadt (Kierling) an der Donau liegt, sondern im Hinterland, auch hinter den Weinbergen, am Eingang zum Wienerwald – dieser einzigartigen Wildnis, die den Westen Wiens umgibt. Klosterneuburg, einen Kilometer von der Donaumetropole entfernt und eine Siedlung, die um ein mächtiges, katholisches Stift gebaut wurde, ist seit den Nachkriegsjahren auch Wohn- und Rückzugsort wohlhabender Bürger, darunter vieler Künstler, die nicht im nahen Wiener Cottage wohnen wollen – in Döbling oder Grinzing, wo man gerne unter sich bleibt. Klosterneuburg, eigentlich ein Kaff, ist ein Ort der Weltbürger. Und im nahen Dorf Gugging bezog sogar eine intellektuell ausgerichtete Elite-Universität ein ruhiges Quartier.

Es geht den Hügel hinauf, auf einen Kamm, der letzter Ausläufer der Alpen ist – sozusagen das Hüsteln des europäischen Hauptgebirges. Fast an der Spitze des Hügels steht ein stabil gebauter Holzschuppen mit einer geräumigen Einfahrt. Man könnte annehmen, es handle sich um einen Werkzeugschuppen eines Handwerksbetriebes. Und diese Annahme ist gar nicht mal so falsch.

Aus dem Einfamilienhaus unterhalb des Schuppens kommt ein Mann Ende fünfzig zu uns hinauf. Er trägt legere Kleidung und Hausschuhe. Alles, was man hier in den ersten zwei Minuten aufgrund des Gesehenen annimmt, wird sich als Irrtum erweisen.

Der Mann heißt Herwig Pecoraro. Und ist Opernsänger. Das sagt er aber nicht, sondern nimmt an, dass man es weiß. Denn Herwig Pecoraro ist kein unbekannter Opernsänger, sondern eine stabile Größe auf nationalen und internationalen Besetzungslisten, sowie Mandatar in Sachen Wiener Staatsoper. Wir sind aber gekommen, damit uns Pecoraro Saures gibt – seinen Essig.

Doch halt! Pecoraros Essige sind mitnichten sauer, denn sie sind Balsamico-Essige, also Essige, die durch ihre Reduktion eine geschmacklich maßgebliche Süße aufweisen; Essige zudem, die man auch – und vor allem – in Modena abfüllt. Und es kann gut sein, dass Pecoraros Balsamico-Essige aus Klosterneuburg die besten Balsamico-Essige aus -Modena sind. Wie das? Und wie kam es dazu? Hier muss man etwas ausholen und die Geschichte einer Person erzählen, die im Leben viel zuließ und trotzdem ihren eigenen, sehr individuellen Weg gehen konnte.

Herwig Pecoraro ist das Kind oberitalienischer Einwanderer, die vor drei Generationen in den äußersten Westen Österreichs, nach Vorarlberg zogen, um dort Arbeit zu finden. Das ärmliche Valsugana, aus dem die Pecoraros stammen, gehörte damals zu Österreich-Ungarn und das Auswandern war in diesen Zeiten auch innerhalb der Monarchie weniger einfach, als heute angenommen wird – von den damaligen Vorbehalten gegen alles Fremde mal ganz zu schweigen.

Herwig Pecoraro wuchs in soliden Verhältnissen auf und wollte Koch werden. Das war sein Traumberuf und verbindet ihn mit Stefan Resch, den Küchenchef des Wiener Park Hyatt, der heute mitgekommen ist, um seine Essigbestände aufzustocken, denn Pecoraro füllt seinen Balsamico auch in gastronomiefreundliche Literflaschen, die dann, im großen Gebinde, mehr kosten als so mancher Premiumwein aus dem Bordelais.

Das mit dem Koch konnte sich Pecoraro in den frühen Siebzigerjahren schnell aus dem Kopf schlagen, denn Sicherheit war in den Zeiten der geburtsreichen Babyboomer-Jahre wichtiger als jeder Berufswunsch. Und Sicherheit bedeutete damals vor allem einen sicheren Arbeitsplatz, eine Arbeit, die Sicherheit gibt. Also wurde Pecoraro auf die Polizeischule geschickt, die vor vier Jahrzehnten noch Gendarmenschule hieß, weil Österreich seine Landpolizei nach französischem Vorbild bis vor wenigen Jahren Gendarmerie nannte. Pecoraro, der Koch werden wollte, wurde Gendarm – Dienstausweis, Dienstwaffe und Streifenfahrt. Nicht sein Himmel.

Damals begann der Fremdenverkehr in Vorarlberg so richtig anzulaufen und Pecoraro fuhr auch in prominenten Skigebieten Streife. Und er sang. Zum Spaß. Bei einer besoffenen Wette versprach er, im Konservatorium Feldkirch vorzusingen. Dort nahm man ihn zu seiner Überraschung sofort auf. Das war der Moment, als Pecoraro begriff, dass er neben seiner Fähigkeit zu kochen (die sich hauptsächlich auf Süßspeisen konzentrierte) auch die Möglichkeit hatte, als Sänger ein Auslangen zu finden. Zwei Talente? Das sind für manchen Menschen eines zu viel. Nicht für Herwig Pecoraro.

In einem noblen Hotel im Montafon, wo Pecoraro nach Dienstschluss schon mal dem Patissier über die Schulter schaute, residierte auch die berühmte Sängerin Elisabeth Schwarzkopf – damals eine Größe der Karajan-Ära. Pecoraro fasste allen Mut zusammen und nahm sich das Herz, bei Schwarzkopf (in Gendarmen-Uniform – ein cleverer Schachzug) um ein Vorsingen zu bitten. Man kann sich das Gesicht Schwarzkopfs gut vorstellen, die zeit ihres Lebens oft genug von Menschen aufgesucht wurde, die dachten, sie hätten ein besonderes Talent zu singen. Doch Pecoraro hatte dieses Talent. Und Schwarzkopf nahm ihn unter ihre Fittiche. Das war das Ende seines Gendarmendaseins. Und auch das Ende der Idee, Koch zu werden. Dienstausweis abgeben, Dienstwaffe auch. Und den Schlüssel zum Streifenwagen. Stattdessen einen Fahrausweis zweiter Klasse von Bludenz nach Modena lösen. Um dort das Singen zu lernen.

„Sie müssen singen“, sagte Schwarzkopf immer wieder. Doch zum Singen gehört auch die Technik des Singens. Und diese Technik von den Besten zu erfahren. Pecoraro nahm sein Erspartes und stellte bei seiner Familie noch ein bisschen zusätzliches Geld auf. In Modena bezog er für über ein Jahr in einem Kloster ein günstiges Quartier. In der Sängerschule lernte er Luciano Pavarotti kennen, der damals gerade ein Star wurde. Pavarotti stammte aus Modena und zeigte Pecoraro nicht nur die Gebäude, sondern vor allem die Kulinarik der Stadt – und so auch den Balsamico. Pecoraro erfuhr – neben dem Singen –, wie man diesen Balsamico herstellt. Und weil das wieder etwas Neues war, das ihn brennend interessierte, entwickelte er den Plan, Essig zu machen.

Das Singen ging freilich vor. Die ersten Auftritte, etwa an der Grazer Oper, waren längst gebucht, da ging Pecoraro immer noch mit seinen Essig-Plänen schwanger. Und fuhr zurück nach Modena, um auch in Sachen Saures von den Besten zu lernen.

Aceto Balsamico war vor vierzig Jahren lediglich eine lokale Delikatesse. Die große Balsamico-Industrie, die den Namen heute unter Beschlag nimmt, die gab es damals noch nicht. Viele Kleinbetriebe prägten das Bild des Balsamico; man machte Balsamico, wie seit Jahrhunderten schon, durch das Reduzieren von Essigmuttern infizierter Traubensäfte. Ein durch und durch archaisches Handwerk, das viele Ähnlichkeiten mit dem Weinbau hat. Nur, dass die Fässer kleiner sind und von Mal zu Mal Umfüllen immer kleiner werden.

Die Jahre vergingen. Und Herwig Pecoraro wurde ein berühmter Opernsänger. Der einstige Staatsoperndirektor Eberhard Wächter holte ihn nach Wien und Pecoraro wurde Präsident der Solisten; ein Amt, das auch kulturpolitische Bedeutung hat. Auf einmal saß Pecoraro nicht mehr nur bei Probebesprechungen und im Schminkraum, sondern auch in langen Verhandlungen, bei denen es ums Eingemachte ging. Die Stunden waren knapp, die Tage lang, die Zeit zu kurz. Für Essig.

Doch dann der Ruck. Vor 18 Jahren. Pecoraro hatte genug Wissen und auch Geld beisammen, sein zweites Standbein aufzustellen. Er war prominent genug, um – ohne sich vordrängen zu müssen – ausreichend Abnehmer zu finden. Er hätte es sich einfach machen können. Mit einer Balsamico-Kopie aus Österreich: lieb, nett, gefällig und kurios. Doch Pecoraro wollte mehr. Er wollte toppen, wollte gleich gut sein wie die besten Balsamicomacher Modenas. Und noch dazu, dort, wo es ging, dort, wo sich Ansätze erkennen ließen, auch besser. So wurde Pecoraros Essig, der nur in kleinen Mengen erhältlich ist, nicht das „coole Nebenprodukt“ einer prominenten Sängerkarriere, sondern wesentlicher Bestandteil in den Küchen der Spitzengastronomie. Pecoraro ist über Umwege wieder an den Herden angekommen. Bei seinem Traumberuf Koch. Der Essig macht nun alles rund. In diesem Leben der wahrgenommen Möglichkeiten.

Die Essigwerkstatt Pecoraros ist ein sauberer Raum, vollgestellt mit Regalen, die viele kleine und kleinere Fässer tragen. Pecoraro lässt jetzt kosten. Und mit diesen Probelöffeln zeigt er uns, wie sich die verschiedenen Hölzer – -Eiche, Kastanie, Kirsche – auf den Essig auswirken. Es ist zur Verblüffung aller Anwesenden wirklich so, dass der Balsamico aus dem Kirschholzfass – die fruchtigste aller Essenzen hier – deutlich nach Kirsche schmeckt. Später im Jahr wird Pecoraro eine Cuvée aus all seinen dickflüssigen Säften machen und diese, nachdem sie neun oder fünfzehn Jahre verdichtet wurden, dem Markt und dem Handel überstellen. Es ist ein Handwerk der Generationen und es kann gut sein, dass Pecoraro bald mal einen Essig ansetzt, dessen -Cuvéetierung er nicht mehr erlebt. Da gleicht diese erweiterte, artisane Landwirtschaft erneut dem Weinbau – Lebensmittel für eine kleine Ewigkeit.

 

 

Text & Photos :  MANFRED KLIMEK